Pathologisierung
Unter Pathologisierung ist die „Deutung von Verhaltensweisen, Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken, sozialen Verhältnissen oder zwischenmenschlichen Beziehungen als krankhaft“ zu verstehen.[102]
Meine Ausführungen unter Punkt 1.1 und 1.2 setzten sich bereits mit den Begriffen ’Gesundheit’ und ’Krankheit’ auseinander. Mir geht es in diesem Fall um pathologische, also störungsrelevante Folgen traumatischer Einwirkungen. Ob eine psychische Störung oder psychische Behinderung nach traumatischen Einwirkungen vorliegt, ist immer auch vom Verständnis des multifaktoriellen Kausalzusammenhanges abhängig. Gegenwärtig spricht die Psychiatrie und Psychologie mehr und mehr vom Störungs- statt vom Krankheitsbegriff. Psychische Störungen können vorübergehend sein bzw. weitestgehend behoben werden. Der Begriff ’Störung’ eignet sich im Vergleich zum Begriff ’Krankheit’ wesentlich besser, um dem Prinzip ’Hoffnung’ Ausdruck verleihen. Negativ besetzte Diagnosen vermitteln betroffenen Menschen oft ein Gefühl von ’Da geht nichts mehr zu machen!’ (Resultat meiner Beratungstätigkeit aus der Arbeit mit betroffenen Menschen, die eine psychiatrische Diagnose erhalten hatten).
Posttraumatische Störungen werden durch die ICD-10 und das DSM IV eingeteilt. Es folgt eine kurze Darstellung: „Die International Classification of Diseases (ICD) ist eine von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene internationale Klassifikation der Krankheiten und deren verwandten Gesundheitsproblemen. Die aktuelle Ausgabe der ICD wird als ICD-10 bezeichnet, wobei für den Bereich der psychischen Störungen das Kapitel V relevant ist (Kapitel V Psychische und Verhaltensstörungen). Für das deutsche Gesundheitswesen ist das ICD maßgeblich […] DSM-IV: Das Klassifikationssystem der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA), das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV), enthält fuenf Axen, auf denen Störungen beschrieben werden. Dadurch soll dem Diagnostiker nahe gelegt werden, nicht nur die Ebene der klinischen Störungen zu betrachten, sondern auch weitere bedeutsame Aspekte zu beruecksichtigen.“[103]
Posttraumatische Belastungsstörung unter den Angststörungen auf (Stress – Angst – Vermeidung – Intrusion). Im ICD werden Störungen, welche mit akuter Belastung zu tun haben, in einer Kategorie zusammengefasst und werden unter F.43 geführt. Weitere Auswirkungen mit eigenen Störungsbildern wie Dissoziative Störungen werden unter F.44 bzw. andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung unter F 62.0 aufgeführt.
Dissoziative Störungen und andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung entstehen nach schwersten Traumatisierungen, die überwiegend den Frühstörungen zuzuordnen sind. Es gibt bereits neuere Zuschreibungen für das Störungsbild F 62.0, wobei von einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung („Complex Posttraumatic Stress Disorder, CPSD104) gesprochen wird. Allerdings wurde es noch nicht in die Klassifikation der psychischen Störungen aufgenommen.
Ebenso fehlen noch die traumatische Verbitterungsstörung („Posttraumatic Embitterment Disorder“, PTED105) und die nicht näher spezifizierten Störung durch Extrembelastung („Disorder of Extrem Stress Not Otherwise Spezified“, DESNOS106). Die F 60.3 hat einen nicht unwesentlichen Bezug zur komplexen posttraumatischen Belastungsstörung.
Die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung bei Kindern unterscheidet sich von der PTBS Erwachsener, da sich Kinder und Adoleszenten noch im Entwicklungsprozess befinden. Es können auch Querverbindungen zunderen psychischen Störungen bestehen (z. B. Angststörungen, Depressionen, Zwangsstörungen u. a.)
Mögliche Risikofaktoren wie:
- „Wahrnehmung einer Bedrohung des Lebens (eigenes oder fremdes)
- weibliches Geschlecht
- frühe Trennung von den Eltern
- familiäre Belastungen durch eine psychische Störung
- frühere traumatische Erlebnisse
- eine bereits bestehende Störung wie Depression oder Angststörung
- fehlende soziale Unterstützung
- geringer Bildungsgrad
- bestimmte Persönlichkeitszüge wie Neurotizismus und Extraversion.“[107]
bedingen die Wahrscheinlichkeit der Ausbildung allgemeiner traumatischer Störungen bis hin zu den schwerer ausgeprägten Störungsbildern.
Komorbidität mit anderen Störungsbildern ist häufig und sind oft als Selbstheilungsversuche zu betrachten (z. B. Sucht, Depression, Angst, Suizidrisiko). Diese bedingen unter Umständen auch eine schwierigere Diagnosestellung.
Prävalenzrate der Posttraumatischen Belastungsstörung innerhalb der Bevölkerung: 1 bis 3 Prozent.
Andere traumatische Störungen mit Nachweis von Leidensdruck bzw. Beeinträchtigungen im subjektive Erleben innerhalb der Bevölkerung: 9 Prozent.[108]
Genannte Daten ergeben nur einen allgemeinen Richtwert, der forschungsbedingten Änderungen unterworfen sein kann. Ich halte es für wichtig, einzelne Störungsbilder mit der genauen Beschreibung von Symptomen aufzuführen, weil diese unabhängig von medizinischen und psychologischen Interventionen auf das therapeutische und sozialpädagogische Handeln Einfluss haben. Bei Unkenntnis der Symptomatik einzelner Störungsbilder kann Unklarheit bezüglich der Ressourcenfindung und deren Umsetzung aufkommen. Kenntnisse bezüglich der Vielfalt von Symptombildungen beinhalten die Option, eine größere Bandbreite an subjektiven und objektiven Ressourcen zur Verfügung stehen zu haben – um ein Leben mit Trauma, das in Bezug auf die erlebten Geschehnisse nicht rückgängig gemacht werden kann, mit Sinnhaftigkeit ausfüllen zu können. Leichtere Symptome implizieren nicht unbedingt weniger Leidensdruck betreffender Person. Umgekehrt können Menschen mit schwersten Störungsbildern an einen Punkt der Genesung kommen, welcher mit Akzeptanz und innerer Ruhe beschrieben werden kann.
- 102 https://de.wikipedia.org/wiki/Pathologisierung, verfügbar am 16.05.2009
- 103 http://www.web4health.info/de/answers/psy-icddsm-what.htm, verfügbar am 16.06.2009
- 104 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Komplexe_posttraumatische_Belastungsstörung, verfügbar am 17.05.2009
- 105 Vgl. https://science.orf.at/science/news/84625, verfügbar am 17.05.2009
- 106 http://www.counselingseattle.com/content/complex-trauma.htm, verfügbar am 17.05.2009
- 107 Davison u.a.2007, S. 193
- 108 Vgl. Ebd., S. 192