Gehörlosigkeit und Traumata

Seit wann spielt dieses Thema eine Rolle? Auf jeden Fall, seitdem gehörlose Menschen den Traumafolgen ähnliche Verhaltensweisen wie Hörende aufzeigen und darunter leiden. Der Leidensdruck muss jedoch nicht unbedingt etwas mit einem Trauma bzw. multiplen traumatischen Erfahrungen zu tun haben. Gehörlose Menschen legen aufgrund ihrer sprachlich-kulturellen Besonderheiten sehr oft ein anderes Verhaltensrepertoire an den Tag und stoßen bei Nichtakzeptanz dieser, in einer von hörenden Menschen geprägten Welt, an subjektiv empfundene Grenzen. Kein Mensch kann auf Dauer Unterdrückung standhalten. Gesunde Verhaltensweisen deuten laut entwicklungspsychologischer Theorien darauf hin, dass Autonomiebestrebungen auch immer Grenzen markieren und zu Neuausgestaltung von Beziehungen führen, welche beide Seiten zu mehr Toleranz bezüglich der Andersartigkeit des Anderen führen könnten. Der Andere hat ein natürliches Recht darauf, anders sein zu dürfen, damit auch die Gegenseite sie selbst sein kann. Geschieht dies nicht, besteht durchaus die Gefahr, dass Gehörlosigkeit als solche zu einem Trauma werden kann. Wirth schreibt von der „[…] Schwierigkeit bei der Einschätzung der Auswirkungen traumatischer Erfahrungen bei Hörbehinderten und bei Gehörlosen […]“.[109]

Gehörlosigkeit und Traumafolgestörungen – höherer Grad an Gefährdung oder welche Bedingungen müssen dafür gegeben sein? Wie bereits in der Einleitung angemerkt, stieß ich bei der Literaturrecherche auf recht wenig statistisches Forschungsmaterial, auf das ich in diesem Kapitel noch zurückkommen werde. Unabhängig von statistischen Daten gehe ich aktuell von einer hohen Wahrscheinlichkeit aus, dass gehörlose Menschen aufgrund der Gehörlosigkeit einer latenten und offensichtlichen Gefährdung unterliegen, an Traumafolgestörungen zu erkranken. Jedoch nur dann, wenn diese als Subgruppe keine entsprechende Einbindung in die hörende Gesellschaft sowie Ungleichbehandlung erfährt.

Weitere Aspekte: Brühlmeier weist auf Alfred Adlers Theorie der Individualpsychologie[110] hin. Aus seinem Artikel entnehme ich, dass schon allein die Empfindung der Minderwertigkeit eines von Erwachsenen völlig abhängigen Säuglings nach Kompensierung derselben verlangt. Kann aber die erste Bezugsperson nicht in adäquatem Maße auf die Bedürfnisse des Säuglings eingehen, weil sie nichts von der Gehörlosigkeit, respektive Organminderung ahnt, weiß oder sich überfordert fühlt, ist von einer negativen Wechselwirkung zwischen Mutter und Kind auszugehen (vgl. Kapitel 1.12). Es besteht die Chance, dass die Auswirkungen negativer Wechselwirkungen zwischen Mutter und Kind im sekundären Verlauf der Sozialisation bei guter Erziehung noch kompensiert werden können.

Von einem Gespräch akustisch abgeschirmte Frau - Symbolbild

Scheitern die Kompensationsbestrebungen, kann es zu einer weiteren Dekompensation mit nachfolgender seelischer Beeinträchtigung, welche unter Kapitel 1.12 aufgeführt wurde, kommen. Eine entsprechende Beeinträchtigung zieht noch weitere Kreise, so dass psychosoziale Fehlentwicklungen (vgl. Kapitel 1.13) aufgrund einer sich ausprägenden Identitätsproblematik zu erwarten sind. Um konkret auf den Aspekt der prälingualen Gehörlosigkeit einzugehen, stellt diese als Daseinszustand (unabhängig von der defizitorientierten Sichtweise der Medizin) aus meiner Sicht keine echte Organbeeinträchtigung dar, da die Gehörlosigkeit in diesem Stadium als etwas zum Individuum zugehöriges betrachtet wird. Sie wird erst dann zu einer Organminderwertigkeit, wenn sie sich als Abweichung von der erwarteten Norm versteht bzw. diese von der Gesellschaft an das Kind und seine primäre Umwelt herangetragen wird. D. h., dass das gehörlose Kind von außen einer Behinderung unterworfen und aufgrund fehlender Kompensationsmöglichkeiten die entsprechende Organminderwertigkeit auffällig wird. Erst externe Faktoren, welche eine Behinderung der freien Entwicklung darstellen, bedingen den Versuch des gehörlosen Säuglings, sich den ’hörenden’ Umweltbedingungen anpassen zu müssen. Es kommt nun darauf an, dass der Säugling zunächst in Bezug auf seine Bedürfnisbefriedigung im kommunikativen und beziehungsrelevanten Bereich primäre Bezugspersonen ’versteht’ und von diesen ’verstanden’ wird. Darauf aufbauende Förderung ohne protektive Verwöhnung kann Barrieren vermeiden helfen. Unabhängig von der Gehörlosigkeit kann jedoch das Kind weiteren negativen Entwicklungsfaktoren analog denen hörender Kinder unterworfen sein, die zusätzlich zur sprachlich-kulturellen Andersartigkeit, welche ja auch eine gesellschaftliche Bereicherung darstellt, zu einer Fehlentwicklung führen können. Hier werden die gleichen Maßstäbe wie für hörende Kinder mit frühkindlich prägenden traumatischen Erlebnissen bzw. derer, welche in ihren Kindheits- und Jugendjahren widrigen Lebensbedingungen ausgesetzt waren, wirksam. Erwachsenen an Traumafolgen leidenden gehörlosen Menschen fällt es äußerst schwer, Vertrauen zu fassen[111]. Es ist wichtig, ihnen in ihrer Sprache zuzuhören, Glauben zu schenken und präsent zu sein, um eine sorgfältige biografische und situationsbezogene Anamnese zu erheben. Es geht darum, herauszufinden, ob eine Traumafolgestörung aufgrund behinderungsbedingter Umstände bzw. Fehlanpassung oder behinderungsunabhängiger Faktoren besteht. Dobeśová untermauert (mit den Ergebnissen der Untersuchungen von Polat[112] in dessen Studie) o. g. Hypothese, dass Hörschädigung als solche nicht zwingend zu psychopathologischen, respektive psychosozialen Problemen führen muss.

  • 109 Wirth 2003, S. 111
  • 110 Brühlmeier (2009): In: Die Individualpsychologie Alfred Adlers, http://www.Bruehlmeier.info/adler.htm, verfügbar am 16.06.2009
  • 111 Beobachtung im Kontext eigener Beratungstätigkeit
  • 112 Dobeśová 2008, S. 41
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